Was ist L-Tyrosin?

L-Tyrosin ist eine nicht-essentielle Aminosäure-Vorstufe der Schilddrüsenhormone, der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin sowie des Stresshormons Adrenalin. Als nicht-essentielle Aminosäure kann L-Tyrosin im Körper aus einer anderen Aminosäure, L-Phenylalanin, gebildet werden und muss normalerweise nicht über die Nahrung zugeführt werden. Manche Menschen haben jedoch eine seltene genetische Störung, die „Phenylketonurie“ (PKU), bei der die Aminosäure L-Phenylalanin nicht verarbeitet werden kann. Für diese Menschen ist L-Tyrosin unverzichtbar. Patienten mit PKU müssen L-Phenylalanin durch L-Tyrosin ersetzen, da es sonst zu Hirnschäden kommt. Die Erkrankung wird in der Regel bei der Geburt getestet und festgestellt.

Da L-Tyrosin eine Vorstufe von Neurotransmittern ist, wurde in Studien sein Nutzen für die psychische Gesundheit erforscht. Zwar müssen manche Anwendungen noch weiter erforscht werden, doch es liegen bereits interessante Ergebnisse vor.

Nutzen bei Depressionen

Einige Standardmedikamente zur Behandlung von Depressionen zielen auf Dopamin und Noradrenalin ab. Somit wäre L-Tyrosin eine einfache Möglichkeit, zu versuchen, diese Neurotransmitterwerte zu erhöhen, um ein ähnliches Ergebnis zu erzielen. Interessanterweise deuten Tierstudien darauf hin, dass eine Supplementierung mit L-Tyrosin antidepressive Wirkungen haben könnte.

Studien zur Senkung des L-Tyrosin-Spiegels im Gehirn, bei denen alle Aminosäuren außer L-Tyrosin und seiner Vorstufe L-Phenylalanin verabreicht werden, zeigen eine Senkung sowohl des L-Tyrosin-Spiegel als auch des L-Phenylalanin-Spiegels. In Humanstudien wurden zunehmende Gleichgültigkeit und Unzufriedenheit festgestellt, wenn L-Phenylalanin und L-Tyrosin entzogen wurden. Die Studienteilnehmer zeigten während der Tests auch eine Tendenz zu Traurigkeits-Triggern. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass L-Tyrosin die Stimmung beeinflussen kann, wenn ein Mangel besteht.

In alten Fallberichten werden Patienten beschrieben, die auf viele Standard-Antidepressiva nicht ansprachen und bei denen eine L-Tyrosin-Supplementierung zur Behandlung von Depressionen gut anschlug. In einigen der Fallstudien gab es Hinweise auf einen Mangel an dem Neurotransmitter Noradrenalin. In verschiedenen Fallberichten aus Frankreich wurde berichtet, dass Patienten, bei denen ein Dopaminmangel festgestellt wurde, seit langem von Depressionen geheilt sind. In einer einzigen klinischen Doppelblindstudie zeigte sich jedoch, dass L-Tyrosin bei Depressionen nicht hilfreich ist, obwohl die Dopamin- oder Noradrenalinwerte in der Studie nicht untersucht wurden. Die aktuelle Forschung unterstützt eher JohanniskrautSafran und möglicherweise 5-HTP als natürliche Heilmittel bei Depressionen. Dennoch könnten weitere Untersuchungen Aufschluss darüber geben, ob L-Tyrosin für die Behandlung von Depressionen geeignet ist oder nur in Einzelfällen mit spezifischen Neurotransmitterdefiziten von Nutzen ist.

Nutzen bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

ADHS wird häufig als eine Erkrankung angesehen, die mit einem verminderten Dopaminspiegel im Gehirn zusammenhängt. Stimulanzien wie Ritalin und Adderall scheinen zumindest teilweise durch die Erhöhung des Dopamin- und Noradrenalin-Spiegels zu wirken. Daher sollte es nicht allzu sehr überraschen, dass L-Tyrosin manchmal als Mittel zur Behandlung von ADHS empfohlen wird. Allerdings ist die Forschungslage etwas diffus, und die Studien sind recht begrenzt.

Eine kleine Studie, in der L-Tyrosin, L-Tryptophan, Amphetamin oder Placebo nur eine Woche lang supplementiert wurden, ergab keine positiven Auswirkungen von L-Tyrosin auf ADHS-Symptome bei Kindern. Interessanterweise berichteten Eltern bei Gabe von L-Tryptophan von einer Verbesserung des Verhaltens ihrer Kinder. Da es sich um eine kleine Studie von so kurzer Dauer handelt, ist es schwierig, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. In einer separaten kleinen Studie an Erwachsenen wurde L-Tyrosin acht Wochen lang verabreicht. Nach zwei Wochen zeigten 75 % der Patienten eine Verbesserung ihrer ADHS-Symptome. Nach sechs Wochen ließ der Nutzen jedoch nach, und keiner der Patienten schien langfristig davon profitieren zu können. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass sich eine Toleranz gegenüber L-Tyrosin entwickelt, so dass es für die kontinuierliche Behandlung von ADHS-Symptomen unwirksam ist.

Es existiert zudem eine veröffentlichte ADHS-Fallstudie, ein Kind mit PKU, einer Erbkrankheit, bei der die Bildung von L-Tyrosin aus L-Phenylalanin blockiert wird. Im Alter von drei Jahren begann das Kind, schwierige Verhaltenssymptome zu zeigen. Aufgrund der Symptome suchten die Eltern des Kindes Hilfe. Bei einem psychiatrischen Gutachten wurde bei dem Kind ADHS diagnostiziert. Da das Kind an PKU litt, nahm der behandelnde Arzt an, dass das Kind einen Mangel an L-Tyrosin haben könnte, und gab ihm die Aminosäure als Nahrungsergänzungsmittel. Den Autoren zufolge verbesserten sich die ADHS-Symptome des Kindes durch die L-Tyrosin-Supplementierung dramatisch.

Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse ist es schwierig, eindeutige Schlussfolgerungen über L-Tyrosin bei ADHS zu ziehen. Größere und längere Studien sind erforderlich, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Es muss auch untersucht werden, ob eine Untergruppe von Patienten aufgrund eines höheren biochemischen Bedarfs an der Aminosäure auf die Behandlung ansprechen könnte, wie dies möglicherweise bei PKU der Fall ist. Die Forschung zu ZinkEisenund Ernährungsstrategien deutet darauf hin, dass es wahrscheinlich zusätzliche Optionen gibt, die bei ADHS von Nutzen sind, auch wenn sie von einem fachkundigen Arzt begleitet werden sollten.

Nutzen für die geistige Leistungsfähigkeit unter Stress

Der bei weitem am besten dokumentierte Nutzen von L-Tyrosin scheint seine Wirkung auf die Gehirnfunktion bei Menschen in Stresssituationen zu sein. Es kann Effekte haben, die mit anderen pflanzlichen Adaptogenen vergleichbar sind, wie Ashwagandha und Rhodiola. Viele der Studien über L-Tyrosin wurden von verschiedenen militärischen Gruppen durchgeführt, die am potenziellen Nutzen der Aminosäure interessiert sind.

Tierversuche zeigen, dass der Noradrenalin- und Dopaminspiegel in Stresssituationen abnehmen kann. Die Verabreichung von L-Tyrosin an diese Tiere verhindert die Senkung des Neurotransmitterspiegels und reduziert stressbedingte Verhaltensänderungen.

Kältebelastung

In einem ersten Feldversuch wurden Armeeangehörige kalten Temperaturen mit reduziertem Sauerstoffgehalt ausgesetzt, ähnlich wie in hochgelegenen Gebirgsregionen. In der Studie verringerte L-Tyrosin, aber nicht Placebo, die negativen Auswirkungen erheblich. Die Einnahme von L-Tyrosin wirkte sich positiv auf mehrere Symptome aus, darunter Kopfschmerzen, Kältegefühl, Unruhe, Müdigkeit, Muskelbeschwerden und Schläfrigkeit. Auch bei Aufgaben, die geistige Anstrengung erfordern, wie z. B. Matheaufgaben, Karten- und Kompasskenntnisse, Mustererkennung und andere Messungen, schnitten die Probanden mit L-Tyrosin besser ab.

In einer Studie der US-Armee wurden die Teilnehmer durch die Absenkung ihrer Körperkerntemperatur in kaltem Wasser unter Stress gesetzt. Anschließend wurden sie in einen kalten Raum gebracht und absolvierten eine Reihe von Aufgaben, um sowohl die körperliche als auch die geistige Leistungsfähigkeit zu bewerten. Die bemerkenswertesten Ergebnisse waren Verbesserungen beim Zielschießen durch die L-Tyrosin-Supplementierung in dieser Kältestress-Situation. Die Autoren stellten fest, dass das Zielschießen eine Aufgabe ist, die sowohl körperliche als auch geistige Leistung erfordert.

Lärmbelastung

Eine weitere Studie aus den Niederlanden untersuchte die Auswirkungen von L-Tyrosin auf die kognitive Funktion bei Lärmbelastung. Die Probanden mussten mehrere stressauslösende Denkaufgaben lösen, während sie Kopfhörer trugen, die Geräusche abspielten, die aus einer Kombination von Schwimmbad-, Verkehrs-, Zug- und Fabrikgeräuschen bestanden. Mit L-Tyrosin konnten die Studienteilnehmer die Denkaufgaben besser bewältigen. Darüber hinaus bewirkte L-Tyrosin einen anfänglichen Blutdruckabfall, der sich jedoch nach einer Stunde wieder normalisierte.

Schlafentzug

Schlafentzug verschlechtert bekanntermaßen sowohl die körperliche als auch die geistige Leistungsfähigkeit. Die U.S. Navy untersuchte die Auswirkungen von L-Tyrosin auf Versuchspersonen, die 24 Stunden lang keinen Schlaf bekommen hatten. Sowohl die psychomotorischen Fähigkeiten als auch die Vigilanzaufgaben wurden während des Schlafentzugs durch eine L-Tyrosin-Supplementierung verbessert. In einer separaten, ähnlichen Studie wurde L-Tyrosin im Vergleich zu Koffein, Amphetamin und eine weitere Substanz zur Leistungssteigerung unter Schlafentzug untersucht. Amphetamin war zwar wirksamer, aber L-Tyrosin verbesserte dennoch das Gedächtnis, das logische Denken und die auf visueller Vigilanz basierenden Aufgaben.

Interferenzkontrolle

Eine kleine Studie zur „Interferenzkontrolle“ ergab ebenfalls eine gewisse Verbesserung durch L-Tyrosin. Die Interferenzkontrolle wird mit einer Reihe von Methoden gemessen. Eine davon ist die Darstellung eines Kreises oder eines Quadrats auf einem Computerbildschirm, wobei für jede Form eine Taste nach links (für den Kreis) oder nach rechts (für das Quadrat) gedrückt werden muss. Jede Form wird jedoch zufällig auf der linken oder rechten Seite des Bildschirms dargestellt. Der Ort des Objekts ist für die richtige Antwort irrelevant, dient aber als Ablenkung, um die Testperson zu verwirren. Es hat sich gezeigt, dass L-Tyrosin die Leistung bei Aufgaben zur Interferenzkontrolle verbessert.

Nutzen für die Gedächtnisleistung unter Stress

In einer kleinen Studie wurde der Nutzen von L-Tyrosin bei einfacher und Multitasking-Leistung untersucht. Bei einer Tyrosin-Supplementierung wurde das Gedächtnis bei anspruchsvolleren Multitasking-Situationen verbessert. In einer anderen Studie der U.S. Army wurde die Gedächtnisleistung unter Kältestress untersucht. In der Studie wurden die Probanden in 50 Grad kaltes Wasser getaucht, um die Körperkerntemperatur über 90 Minuten zu senken. Nach der Kältebelastung zeigte sich bei Tests des Kurzzeitgedächtnisses nach Gabe von L-Tyrosin eine bessere Leistung als nach Gabe eines Placebo.

Eine ähnliche Studie der U.S. Navy stellte ebenfalls einen Nutzen der L-Tyrosin-Supplementierung bei Tests des Kurzzeitgedächtnisses nach Kälteeinwirkung fest. Interessanterweise hatte L-Tyrosin keine Auswirkungen auf das Gedächtnis, wenn die Probanden zuvor keiner Kälte ausgesetzt waren, was wahrscheinlich darauf hindeutet, dass der Nutzen nur in Stresssituationen auftritt.

Fazit

L-Tyrosin ist eine interessante Aminosäure, die höchstwahrscheinlich zur Verbesserung der kognitiven Funktionen und des Gedächtnisses bei stressigen Aktivitäten und Situationen beiträgt. Die Forschung ist zwar weniger eindeutig, aber es könnte auch ein Nutzen für bestimmte Fälle von Depressionen mit einem metabolischen Bedarf an höheren Aminosäurespiegeln vorliegen. Was ADHS betrifft, so ist die Forschung weniger gesichert.

Glücklicherweise deuten die veröffentlichten Studien nicht auf nennenswerte Nebenwirkungen von L-Tyrosin hin. Am häufigsten wird über Kopfschmerzen, Müdigkeit, Sodbrennen und Übelkeit berichtet. Bei angemessener Dosierung ist die Aminosäure in der Regel gut verträglich.

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